24. April 2024 – „Tote Hosen“-Frontmann Campino geht an die Uni und doziert über Literatur – genauer gesagt: über „Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer. Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik“ und „Kakophonie unserer Zeit“. So oder so ähnlich hätte der Artikel wohl angefangen, den ich vorhatte zu schreiben: ein dem Pressekodex entsprechend völlig unemotionaler Bericht mit reinen Fakten und sachlicher Distanz. Doch daraus wird nichts. Die Umstände, sagen wir es mal ein wenig pathetisch, „zwingen“ mich dazu, zum journalistischen Werkzeug des Kommentars zu greifen. Inhalt: mein persönliches Befremden über die ach so liberale Literaturszene, und zwar dezidiert und in keiner Weise sublim.
Sollte Kunst nicht offen sein?, frage ich mich zweifelnd, als ich auf die regelrecht diffamierenden Reaktionen auf Campinos Vorlesung stoße. Nicht nur online, sondern auch in vermeintlich „seriösen“ Printmagazinen wird dem Sänger schlichtweg der nötige Intellekt abgesprochen; und das ist noch eine der nettesten Beleidigungen. Auf die zahlreichen Abgeschmacktheiten gehe ich lieber gar nicht ein. „Wie kann sich ein Punk ohne Abschluss als Professor aufspielen?“, unken die einen. „Armes Deutschland. Der hat doch überhaupt nichts drauf“, geifern die anderen. Doch um das überhaupt beurteilen zu können, hätten die Schreiberlinge ihn gestern erst einmal erleben müssen im Hörsaal 3A der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf oder zumindest via Live-Übertragung auf der großen Leinwand nebenan.
Woraus nährt sich Poesie?
Dies allerdings war kaum mehr als 1200 Menschen möglich, ausgelost aus 20.000 Interessenten. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die meisten nur rein spekulativ, ja unwissend über Campinos vermeintliche Unfähigkeit herziehen, ohne seine Message über die Macht der Worte und die Magie von Texten selbst erlebt zu haben! Ihre Abneigung basiert demnach ausschließlich auf der Tatsache, dass er kein Studierter ist.
Zugegeben: Es mag auf den ersten Blick nicht einleuchten, warum jemand, der „nur“ Abitur hat, befähigt sein soll, sich auf einmal (Gast-)Professor nennen zu dürfen, während der Werdegang eines ordentlichen Professors Studium, Dissertation und Habilitation voraussetzt. Und gerade da beginnt für mich die interpretatorische künstlerische Freiheit, den Begriff „Dozent“ in diesem Fall nicht so engmaschig und streng zu definieren. Dass Campino kein fundierter Wissenschaftler ist, steht außer Frage. Das ist übrigens niemandem so bewusst wie ihm selbst, ließ er durchblicken. Deswegen maßte er sich wohl auch nicht an, tatsächlich eine „normale“ Vorlesung zu halten: anderthalb Stunden frei redend nämlich über ein in der Regel hoch diffiziles Thema. Seine Lehrversanstaltung war vielmehr als langes Interview konzipiert. Zwei Stunden lang stand er seinem Biografen und „Spiegel“-Kulturchef Philipp Oehmke Rede und Antwort, sinnierte über KI, den „Lärm aus dem Internet“ und „Medienkompetenz als eigenes Schulfach“ – natürlich ohne dabei empirische Untersuchungen zu bemühen. Seine Ausführungen waren ausschließlich Früchte seiner eigenen Erfahrungen und Reflexionen.
Vielleicht hätte man seinen Auftritt daher eher einfach als Gastvortrag etikettieren sollen. Ob das die vielen Anfeidungen minimiert hätte, sei dahingestellt. Ich jedenfalls klammere mich nicht an Bezeichnungen und fühle mich als (promovierte!) Literaturwissenschaftlerin nicht brüskiert, wenn ein Showstar akademisches Parkett betritt und damit auf erfrischende Weise ein wenig Staub aufwirbelt im ehrwürdigen Gemäuer einer Hochschule. Warum? Weil ich ihn im weitesten Sinne als Poeten verstehe, der in seinen Lyrik-Punk-Songs mit Worten jongliert wie ein akademisch hoch gebildeter Sprachvirtuose und damit Menschen für seine oftmals sozialkritischen, manchmal (ja, nicht immer) äußerst klugen, anspruchsvollen Texten begeistert. Besteht nicht gerade darin das Geheimnis von Literatur? Dass sie berührt, beflügelt, animiert? Dass sie aus dem Herzen kommt und von der Erfahrung des Lebens profitiert? Das lassen Nörgler selbstredend völlig außer Acht. Und das wiederum irritiert mich, dachte ich doch immer, Poesie nähre sich vom Freigeist, von Toleranz und ließe sich nicht ein Korsett schnüren.
Viele Literaten und Literaturwissenschaftler dürften mir da zustimmen, so auch die Rektorin der Uni, Prof. Dr. Anja Steinbeck. Sie bezeichnete die gestrige Unterrichtseinheit „als Highlight ihrer bisherigen Laufbahn“.