16. Dezember 2024 – „Im Namen der Barmherzigkeit“ von Hera Lind, Argon Hörbuch: Einfühlsam liest Yara Blümel die Geschichte dieses tapferen Kindes, das sich furchtlos mit dem Leben anlegt. Damit gibt sie dem leidgeprüften Mädchen im Wortsinn eine Stimme und macht ihr Schicksal zum exemplarischen Schicksal all derjenigen, die wie sie ohne Liebe und Rückhalt aufgewachsen sind.
Ausdrucksstarke Intonation
Konzentriert und nuanciert wird Hera Linds Tatsachenroman von der Sprecherin intoniert, sodass die Zuhörer die bewegte, anrührende Vita der kleinen Protagonistin vor ihrem geistigen Auge aufflackern sehen. Blümel betont jedes Wort perfekt und haucht dem Text Lebendigkeit ein, macht ihn spannend und untermalt dadurch dessen Authentizität.
Berührende Lektüre mit Tiefgang
Wer Hera Linds bewegende Geschichte lieber nachlesen möchte, der kann das im gleichnamigen Taschenbuch aus dem Knaur Verlag. Seite für Seite wird darin das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht so erschreckend nah geschildert, dass es greifbar wird. Man leidet, bangt mit und um Steffi, hofft mit ihr bis zuletzt.
Das Interview mit Hera Lind über sexuellen Missbrauch, die traumatische Kindheit und das harte Schicksal ihrer jungen Heldin
CarpeGusta Literatur: Erstmals schreiben Sie in einem Tatsachenroman über sexuellen Missbrauch. War das bis dato ein zu heikles Thema für Sie?
Hera Lind: Allerdings. An „sexuellen Missbrauch“ habe ich mich bisher nie herangewagt. Dabei wird mir das Thema so erschreckend häufig von meinen Lesern für einen Tatsachenroman angeboten! Doch als Grundlage für einen Roman, der nicht zuletzt auch der Unterhaltung dient, sah ich dieses sensible Thema nie – natürlich auch aus Respekt vor den Opfern. Ich dachte, dass es eher in die geschützten vier Wände einer guten Therapeutin oder eines guten Therapeuten gehöre.
Was hat Sie umgestimmt, doch Steffis Geschichte als Tatsachenroman zu veröffentlichen?
Eines Tages kam die Psychotherapeutin und Ärztin von Steffi, die sich auch nach ihrer Pensionierung noch um Steffi kümmert, zu mir in die Schreibwerkstatt. Sie wollte ein Buch über das erschütternde Schicksal von Steffi schreiben. Aus verschiedenen Gründen haben wir uns entschieden, dass ich das Buch umsetzen soll. Und auch mein Verlag war der Meinung, dass das Thema Missbrauch unbedingt eine große Öffentlichkeit erreichen sollte – gerade jetzt, wo die lange verschwiegenen Missbrauchsfälle von Pflegekindern endlich an die Oberfläche kommen. Aus dieser Warte hatte ich das noch nicht gesehen.
Ihr Roman ist von suggestiver Intensivität, weil Sie tief in Steffis hartes Schicksal eingetaucht sind. Hat Steffis Geschichte Sie an Ihre Grenzen gebracht?
Absolut. Ich musste immer wieder zwischendurch aufhören und an die frische Luft. Ich bin Mutter und Großmutter und kann es nicht begreifen, wie man mit so einem kleinen hilflosen Menschlein so brutal und herzlos umgehen kann, und das alles auch noch „im Namen der Barmherzigkeit“. Die Pflegefamilie ließ sich ja von der Kirche als Wohltäterin feiern.
Steffi musste unfassbar Schreckliches als Kind verkraften – als Asthmatikerin in ein Getreidesilo steigen, stundenlang auf Holzscheiten knien, hungern und frieren, geprügelt und vergewaltigt zu werden. Wie geht es ihr heute?
Auch wenn sie auf mich persönlich stark und gefasst wirkte, so glaube ich doch, dass solche Kindheitserinnerungen einen Menschen für immer prägen. Sie war lange tablettensüchtig, kam aber mithilfe ihrer Psychiaterin davon los. Doch ihr Leben hatte auch schöne Seiten. Als 15-Jährige wurde sie bereits Mutter und ist mit Recht stolz darauf, dass aus ihrer Tochter ein liebevoller und selbstbestimmter Mensch geworden ist.
Warum hat Steffi als Erwachsene ihre Peiniger nicht vor Gericht gebracht?
Als Steffi 15 Jahre alt war, hat ihr ihre Psychiaterin geraten, den Bauern anzuzeigen. Es kam auch zu einem Gerichtsprozess. Aber Steffi war von ihrer Angst, dass ihr Peiniger freigesprochen und sie dann umbringen wird, derart paralysiert, dass sie aussagte, nicht missbraucht worden zu sein. So verhalten sich oftmals traumatisierte Opfer. Und heute möchte sie verständlicherweise unerkannt und unbehelligt ein normales Leben führen. Würde sie an die Öffentlichkeit gehen, würde ihre Vergangenheit sie wieder aufwühlen und ihre Gesundheit gefährden.
Steffis Kindheit als ausgebeutete, missbrauchte Arbeitskraft auf einem Bauernhof ist kein Einzelfall. Tausende Kinder hatten Jahrhunderte lang bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts dasselbe schreckliche Los. Hoffen Sie, dass Ihr Roman etwas für die Betroffenen bewirkt?
Alle meine Tatsachenromane decken ja Tabus auf und aus den Leserzuschriften kann ich ersehen, dass sie aufrütteln, erschüttern, aufklären. „Das habe ich nicht gewusst“, „jetzt mache ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber“ und „jetzt verstehe ich meine Mutter/Großmutter viel besser“ sind Rückmeldungen, die mich in meiner Arbeit bestärken und motivieren, weiterhin nach solchen Stoffen zu suchen.
Bis in die 1980er haben Behörden, Politik und Justiz weggeschaut und bis heute erfolgt eine Aufarbeitung der Kinderarbeit in der Landwirtschaft nur schleppend. Wird Steffi heute von den Behörden unterstützt?
Es gibt ein Amt, das sich um die missbrauchten Pflegekinder kümmert. Mithilfe ihrer Psychiaterin, die in dem Buch ja auch eine führende Rolle spielt, hat Steffi eine Erwerbsminderungsrente beantragt und bekommt sie heute auch. Ihr Peiniger, der Bauer, ist gestorben, als Steffi etwa 25 Jahre alt war. Vorher kam sie nicht auf die Idee, dass ihr so etwas wie Wiedergutmachung zusteht. Doch die Erwerbsminderungsrente ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Steffis Trauma, ihre spätere jahrelange Tablettensucht und ihre vielen gescheiterten Beziehungen sind nicht wieder gutzumachende Folgen ihrer entsetzlichen Kindheit.
Was war eigentlich mit Steffis leiblicher Mutter?
Für mich ist die leibliche Mutter ganz ungeheuerlich. Sie hat Steffi als siebtes (!) Kind ganz bewusst zur Welt gebracht, aber sofort als Pflegekind freigegeben. Sie wollte sie nach der Geburt noch nicht einmal sehen. Erst als Steffi im jugendlichen Alter war, nahm die Mutter wieder Kontakt zu ihr auf – nicht aber um eine Beziehung zu ihr aufzubauen: Nein, sie missbrauchte ihre nach Liebe dürstende Tochter ebenfalls als Arbeitskraft und als sie krank wurde auch als Pflegekraft.
Als Schriftstellerin möchten Sie unterhalten. Kreieren Sie manchmal, damit die Leser zwischendurch aufatmen können, bewusst Lichtblicke, die in der Realität Ihrer Protagonistinnen nicht passiert sind?
Ja, das habe ich in Steffis Geschichte gemacht, als ich sie bei einer Wohnungssuche mit ihrer Tochter ihren Pflegebruder Manfred wiedertreffen lasse. Der Junge hat ihr als Einziger in dieser Bauernfamilie beigestanden, kennt als Einziger ihre Nöte und die Abgründe ihrer verletzten Seele. Im Gegensatz zur bitteren Wahrheit, dass Steffi später immer wieder an Beziehungen scheiterte, auf Betrüger reinfiel und als Erwachsene von Unbekannten vergewaltigt wurde, lasse ich sie mit dem inzwischen erwachsenen Pflegebruder glücklich werden.
Die unfassbar brutale Kindheit von Steffi, aber auch ihr Versuch, ihre dadurch verursachten Traumata aufzuarbeiten, gehen unter die Haut. Wie werden Ihre Leser das verkraften?
Das weiß ich nicht. Aber bevor sie sich von ausgedachten Thrillern schockieren lassen, weil sie den Nervenkitzel als Einschlaflektüre brauchen, können sie sich die Wahrheit zumuten, denke ich. Wenn sie nur einmal besonders liebevoll mit einem anvertrauten Kind umgehen, nur einmal zuhören, hinschauen, sich in die Seele hineinversetzen, dann hat dieses Buch einen Sinn.
Und wie distanzieren Sie sich selbst innerlich nach einem Schreibtag, an dem Sie sich intensiv mit den Problemen und Abgründen, aber natürlich auch mit den schönen Seiten Ihrer Romanfiguren beschäftigt haben?
Tatsächlich tauche ich so tief in den Stoff ein, dass ich noch stundenlang mental darin feststecke. Mein Mann und ich haben da ein Abkommen: Um 19 Uhr läutet er die Schiffsglocke, dann wird der Text abgespeichert und eine Stunde bis zur „Tagesschau“ Sport getrieben. Entweder spielen wir zehn Sätze Tischtennis oder wir laufen einmal über den Mönchsberg, auch bei Schnee und Eis. Nichts holt einen besser wieder runter.
Klappentext:
Im Namen der Barmherzigkeit nimmt die steirische Bauernfamilie Kellerknecht jedes Jahr ein Pflegekind auf. So kommt die knapp dreijährige Steffi in den Siebzigerjahren auf den abgelegenen Bauernhof. Zwischen den anderen Pflegekindern lernt sie schnell, dass sie für ihre kargen Mahlzeiten und das Etagenbett in der Dachkammer hart schuften muss, und zwar barfuß. Ab ihrem neunten Lebensjahr wird Steffi vom Bauern regelmäßig missbraucht. Mit fünfzehn ist sie schwanger und wird in ein Kloster abgeschoben, wo sich barmherzige Nonnen um ledige junge Mütter kümmern. Steffi will ihrem Kind eine bessere Kindheit bieten und macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter …
Über die Autorin:
Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war klassische Sängerin, bevor sie mit Romanen wie „Das Superweib“ sensationellen Erfolg hatte. Mit ihren Tatsachenromanen, die stets auf wahren Geschichten beruhen, erobert Hera Lind immer wieder verlässlich die vordersten Plätze der „Spiegel“-Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Salzburg, wo sie auch Schreibseminare anbietet.
Über die Sprecherin:
Yara Blümel studierte Gesang, Tanz und Schauspiel. Nach Stationen am Theater St. Gallen und dem „Maxim Gorki Theater“ in Berlin ist sie als Schauspielerin vor allem auf Berliner Bühnen zu sehen. So war sie zum Beispiel Ensemblemitglied im Erfolgsmusical „Hinterm Horizont“. Als Hörbuchsprecherin hat unter anderem die Bestseller von Sarah Lark gelesen.
Lesen Sie auch dieses Interview mit der Starautorin unter „Prominent nachgefragt: Das 5-Minuten-Blitz-Interview mit Star-Autorin Hera Lind“ und eine Rezension ihres Buches „Das einzige Kind“.