18. Oktober 2024 – „Ein Schriftsteller gibt sich an allem zu erkennen, was er schreibt“, sagte Siegfried Lenz einst in einem Interview. Und genauso transparent gibt sich sein Gesamtwerk: Die Romane und Geschichten des Nachkriegsautors spiegeln das Dilemma des Einzelnen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche wider. Dabei bleibt Lenz stets ein unaufgeregter, tiefgründiger Beobachter menschlicher Schwächen und Stärken – ein Humanist, dessen Werk durch stillen Optimismus und die unerschütterliche Überzeugung geprägt ist, dass Menschen zur Vernunft und Versöhnung fähig sind.
Gerade sind bei Hoffmann und Campe bislang unbekannte und somit unveröffentliche Erzählungen erschinen. „Dringende Durchsage“ zeigt das Schaffen des jungen Lenz’ zu Beginn seiner Karriere.
Unaufdringlich, unaufgeregt, reflektiert
Geboren am 17. März 1926 in Lyck, wuchs Lenz in einer preußischen Region auf, die von den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts tief geprägt war. Mit 17 meldete er sich freiwillig zur Marine, kurz vor Kriegsende desertierte er jedoch und geriet in britische Gefangenschaft.
Nach dem Krieg begann er ein Studium der Literaturwissenschaften, Anglistik und Philosophie in Hamburg, brach es allerdings ab und wurde Journalist. 1951 veröffentlichte er mit „Es waren Habichte in der Luft“ seinen ersten Roman, der bereits seine Fähigkeit zeigte, individuelle Lebensgeschichten mit historischen Ereignissen zu verknüpfen.
Den großen Durchbruch schaffte er 1968 mit „Deutschstunde“. Er gilt als Lenz’ Meisterwerk. In diesem Buch entfaltet sich das Thema, das ihn zeitlebens beschäftigte: die Spannung zwischen individueller Moral und gesellschaftlicher Anpassung aufzuzeigen. Es ist ein stilles Psychogramm eines Jungen, der hin- und hergerissen ist zwischen der autoritären Erziehung des Vaters und der Verpflichtung zur Menschlichkeit. Nicht nur hier, sondern ebenso in seinen vielen anderen Schriften geht es immerzu um diese zentrale Frage, wie sich Menschen in Extremsituationen verhalten – ob sie dem gesellschaftlichen Druck nachgeben oder ihre innere Haltung bewahren.
Keine einfachen Antworten
Als Erzähler vermied Lenz stets Schwarz-Weiß-Denken. Er zeichnete seine Figuren komplex und menschlich – immer ambivalent, oft gebrochen, aber nie hoffnungslos. Seine Protagonisten stehen häufig zwischen den Fronten, gefangen zwischen Pflichtbewusstsein und einem tief empfundenen Wunsch nach Gerechtigkeit. Dabei bleibt Lenz ein leiser Chronist, der es versteht, auf subtile Weise die seelischen Abgründe seiner Figuren auszuloten, ohne ihnen ihre Würde zu nehmen.
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Siegfried Lenz politisch engagiert, allerdings auf eine leise, nachdenkliche Art. Er setzte sich für die Aufarbeitung der NS-Zeit ein und war ein entschiedener Verfechter von Demokratie und Freiheit. 1972 gehörte er zu den prominenten Unterstützern der SPD und Willy Brandts Ostpolitik, die er als notwendigen Schritt zur Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarländern sah.