29. Oktober 2024 – Ja, von der Biografie eines Mannes, der 30 Jahre an der Seite von Virginia Woolf lebte, ist zu Recht einiges zu erwarten. Doch Leonard Woolf, der wie kein anderer so nah dran an diesem Ausnahmetalent gewesen ist, verliert sich in „Mein Leben mit Virginia“ viel zu oft und zu weit abschweifend in einer allzu langen Rahmenhandlung. Minutiös und penibel detailliert berichtet er von Wohnungssituationen und der Gründung ihres eigenen Verlags oder driftet in uferlose Landschaftsbeschreibungen ab. Dabei kommt das Wesentliche allerdings zu kurz: Virginia Woolf nämlich in all ihren Facetten. Ihre Genialität, die Zerrissenheit, von der sie literarisch angetrieben wurde und die sie zugleich zerstörte – davon ist nur ganz oberflächlich die Rede.
Anfälle, Essensverweigerung, Koma
Ihr Ehemann berichtet zwar über ihre Abstürze, die verstörenden Unstimmigkeiten ihrer Seele und die psychischen Entgleisungen. Weiter führt er aus, wie sie sich während ihrer sogenannten Anfälle regelrecht verwandelte in ein apathisches Wesen, das weder schlafen noch essen konnte und sogar ins Koma fiel. Allerdings muten die meisten Erläuterungen eher wie eine distanzierte Reproduktion von Fakten an. Woolf gleicht da eher einem allzu nüchternen Berichterstatter, der um eine exakte Chronologie bemüht ist.
Es fehlt an Tiefe, die den Lesern das Phänomen Virgina Woolf wirklich greifbar macht. Nach ihrem Geist suchen sie daher in seinen Erinnerungen vergebens. Nicht einmal den Versuch einer ernst zu nehmenden Innenschau gibt es. Somit erscheint diese einzigartige Schriftstellerin farb- und auf gewisse Weise auch konturlos. Wer ihren Background nicht aus anderen Biografien kennt, bleibt mit einem unbefriedigten Gefühl und zwei unbeantworteten Fragen zurück: Wer war Virginia Woolf eigentlich wirklich? Und worin begründet sich ihre Tragik? Wahrscheinlich hätte der Autor dafür einen kurzen Blick auf ihre Kindheit werfen sollen, die geprägt war vom frühen Verlust der Mutter, einem patriarchalischen Familiengefüge, sexuellen Übergriffen und inzestiösen Verbindungen. Vielleicht hätte auch er dann besser verstanden, wie traumatische Erfahrungen ihre künstlerische Sensibilität prägten und wie sie den inneren Konflikt befeuerten, der sie nach etlichen Suizidversuchen 1941 in den Tod trieb.
Ein weiteres Buch über Virginia Woolf: „Ach, Virginia“ von Michael Kumpfmüller