Franz Kafka: „Ich könnte leben und lebe nicht“

13. Oktober 2024 – „Franz Kafka“ von Marcel Reich-Ranicki, LiteraturWissenschaft Verlag: Zwei Giganten der Literatur treffen hier in diesem feinen Büchlein aufeinander, um Enthusiasten schöngeistiger Prosa erlesenes Wortkonfekt und stilistisch-charmante Textanalysen zu offerieren. Autor, Publizist und Kritiker Marcel Reich-Ranicki nimmt sich Franz Kafka vor, und zwar in der für ihn so charakteristischen, ja unnachahmlichen, espritvollen Art und Weise.

Der emeritierte Professor Thomas Anz nahm Kafkas 100. Todestag im Juni 2024 zum Anlass, um beide Charismatiker in dieser Sammlung zusammenzuführen. 61 Seiten umfasst das kleine Kompendium.

Der Feind im Kopf

Beim Lesen „hört“ man in jeder Zeile Reich-Ranickis imposante, eindringliche Stimme heraus, wie er sich echauffiert, wenn ihm ein Thema besonders am Herzen liegt. Wir „sehen“, wie er leidenschaftlich mit großen Gesten diskutiert über das eigentümliche Wesen des Prager Schriftstellers.

Insbesondere Kafkas illusorisches Verhältnis zum weiblichen Geschlecht nimmt er genauer unter die Lupe. Allesamt konturenlos erschienen dem Sonderling seine Weggefährtinnen – und das aus gutem Grund. „So waren sie, die Frauen, die Kafka liebte, so sollten sie sein: gesichtslose Wesen, die, eben, weil gesichtslos, seine Phantasie besonders stark anregen konnten und sich als Projektionsflächen für seine Visionen eigneten“, resümiert Reich-Ranicki. Tief in seinem Inneren habe Kafka im Grunde genommen nur die Unerreichbaren begehrt, weil sie ihm nicht gefährlich werden konnten. Zu viel Nähe habe er gefürchtet, weil sie den Grad für das für ihn Ertragbare überstieg. Er, der die ewige Liebe anstrebte, fühlte sich von der Enge einer Partnerschaft abgestoßen. Sein „Feind im Kopf“ wehrte sich mit aller Macht gegen die Ehe. Romantik und Erotik tauschte er daher mehr oder weniger bereitwillig ein gegen ein selbst auferlegtes Zölibat, das ihn unweigerlich absonderte vom Rest der Welt. In welchem innerseelischen Drama er steckte, war ihm selbst mehr als bewusst: „Ich könnte leben und lebe nicht“, fasste Kafka 1922 prägnant zusammen und reflektiert sich somit in einem einzigen Satz.

Fazit: Feingeschliffene Deutungen, genaue Beobachtungen und komplexe Betrachtungen, die die Brillanz beider Autoren zeigen.

Klappentext:

Über Franz Kafka hat Marcel Reich-Ranicki nur wenige Artikel veröffentlicht, obwohl er ihn und Thomas Mann, wie er am 7. März 1985 in der FAZ bekannte, zu jenen zählte, „die ich als die größten Schriftsteller unseres Jahrhunderts bewundere“. Im Rahmen von Beiträgen über andere Autoren und Autorinnen ist er allerdings oft und ausführlich auf Kafka eingegangen. Und auch in seiner 1999 erschienenen Autobiographie „Mein Leben“ kommt er häufig auf ihn zu sprechen. Die beiden ausführlichsten Artikel Reich-Ranickis über Kafka betreffen vor allem seine ambivalenten Beziehungen zu Frauen. Dort geht es am Ende auch um Kafkas Judentum. Mit ihm befasste er sich in seinen anderen Veröffentlichungen am frühesten und häufigsten, allerdings immer relativ kurz. Bisher sind etliche Sammlungen von Artikeln Reich-Ranickis über einzelne Autorinnen und Autoren erschienen, aber keine über Franz Kafka.

Über den Autor:

Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in Polen, lebte von 1929 bis 1938 in Berlin. Nach der Deportation durch die Nazis überlebte er nur knapp das Warschauer Ghetto und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück, wo er seine Karriere als Literaturkritiker begann: Er war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der „Zeit“ und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, für die er bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“ tätig blieb. Von 1988 bis 2001 leitete er „Das Literarische Quartett“ im ZDF. Nahezu alle Menschen in Deutschland kennen Marcel Reich-Ranicki; er war der Kritiker schlechthin, das Enfant terrible der Medienlandschaft. In seinem geschriebenen wie gesprochenen Wort spürte man jederzeit die Leidenschaft und Konsequenz, mit der er sich für Literatur einsetzte. Seine Autobiografie „Mein Leben“ wurde folgerichtig zu einem Millionenbestseller. Er erhielt zahlreiche literarische und akademische Auszeichnungen. 2013 starb Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt am Main.

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