21. September 2023 – Jeder Text ist beseelt von der Leidenschaft des Schreibenden. Jedes einzelne Wort entspringt dem Pathos eines künstlerischen Herzens. Da nimmt es nicht wunder, dass der Autor an jedem Buchstaben festhält, als gelte es, ein Leben zu retten. Nicht selten werden Schriftsteller deswegen als empfindlich oder gar schwierig verschrien. Und sie sind es tatsächlich: eigen! Allerdings im positivsten Sinne. Wie anders könnte man sonst das Talent bezeichnen, aus sich heraus eine Welt zu erschaffen, wenn nicht als eigen? Vielleicht träfe die Begrifflichkeit „einzigartig“ oder „besonders“ den Kern der Sache noch besser. Jedenfalls bedarf es als Lektor einer emphatischen Anteilnahme für das Werk, aber auch für das Wesen eines solchen Literaten. Das anzuerkennen, ist der erste Schritt, um die Basis für ein umgängliches, aber auch konstruktives Miteinander zu bereiten. Das funktioniert selbstverständlich nur, wenn auch der Autor umgekehrt Vertrauen aufbauen kann zu dem Menschen, mit dem er eine Zeit lang eine freundschaftsähnliche Beziehung eingehen wird.
Gute Texte sind kein Zufall
Von ebensolcher Wichtigkeit ist dann das sichere Einfühlungsvermögen in den sprachlichen Gestus und die gedankliche Handschrift des Autors. Einen Text zu redigieren, bedeutet nämlich nicht, ihn so zu verändern, dass er bis zur Unkenntlichkeit „deformiert“ wird – oder, schlimmer noch, den eigenen Empfindlichkeiten angepasst wird. Geltungssüchtige Buchstabenschergen, die sich in den Texten anderer selbst wiederfinden wollen, haben den Beruf des Lektors ganz eindeutig verfehlt. Ein gewissenhafter Lektor versteht sich als beratender Begleiter und zwängt einem Autor somit nie seine eigenen Ideen auf. Nichtsdestoweniger muss er Kritik ausüben. Allerdings sollte auch diese behutsam und fundiert formuliert werden. Von unsachlicher Unprofessionalität zeugen beispielsweise Veränderungen am Text, die für den Schriftsteller nicht nachvollziehbar sind: Passagen werden kommentarlos gestrichen oder ersetzt, Figurenkonstellationen gänzlich ohne Denkanstöße oder die Stringenz der Handlung ohne weitere Hilfestellung infrage gestellt. Der Autor sieht sich vor einem Berg ungelöster Probleme allein gelassen. Der Klimax kontraproduktiver Zusammenarbeit ist erreicht, wenn sich der Lektor zudem auch noch in herablassender Distanz verliert. Ein reziproker Dialog aus Fragen und Antworten dagegen ist der Schlüssel zum Erfolg. Häufig öffnen sich im Austausch verschlossene Türen, hinter denen sich beispielsweise handlungsrelevante Inhalte oder verschüttete Ideen verborgen hielten.
Das Credo lautet daher: Gute Texte sind kein Zufall. Ähnlich wie Pralinen werden sie so lange verfeinert, bis aus ihnen erlesenes Wortkonfekt entsteht. Das ist der Anspruch, den der Lektor sich stellt und deswegen arbeitet er stets Hand in Hand mit den Autoren, bis ihre Manuskripte zu höchstem Lesegenuss herangereift sind. Erfahrungsgemäß geschieht dies durch die Transparenz des Redigierens, vor allem aber durch Ehrlichkeit und Offenheit. Unstimmigkeiten, Gedankenfehler, Entgleisungen jeglicher Art werden stets so aufgegriffen, dass sie nie als Angriff, sondern als Impuls verstanden werden. Schließlich stecken die Autoren oftmals so fest drin in ihrem Manuskript, dass sie den Blick fürs Ganze zweitweilig verlieren. Da hilft eine neutrale und objektive Person, die mit sublimer Direktheit Hinweise gibt oder auf mögliche Schwächen hinweist. Wichtig ist bei allem stets eins: Der Lektor muss den Text ernst nehmen. Selbst die skurrilsten Geschichten verdienen, wenn sie in sich schlüssig sind, mit Respekt und dem nötigen Ernst behandelt zu werden.
Vom Potenzial und roten Faden
Bei größeren strukturellen Probleme bewegt sich der Lektor nicht selten auf schmalem Grat. Es ist nicht immer einfach, jemandem vor Augen führen zu müssen, dass sein Text kränkelt und somit einer intensiveren Nachbehandlung bedarf. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass der Lektor gravierende Eingriffe autark durchführt. Er lenkt lediglich in eine bestimmte Richtung. Er berät, suggeriert. Hauptakteur ist und bleibt stets der Autor. „Wie gehe ich mit Ihren Veränderungsvorschlägen um, wenn sie mir an der einen oder anderen Stelle nicht zusagen?“, werden Lektoren gelegentlich gefragt. Die Antwort ist sehr einfach: „Sie allein bestimmen, ob Sie sie annehmen oder nicht! Und falls nicht, suchen wir nach adäquaten alternativen Lösungen, so lange bis der Text rund ist.“ Im Vordergrund eines solchen Gesprächs steht stets das Wohlbefinden des Autors. Somit wird er nie demotiviert zurückgelassen. Warum? Weil ein Lektor zeitgleich mit der Kritik auch stets das Potenzial eines Werkes sieht und hervorhebt.
Letzteres wiederum ist allerdings ein unumstößliches Kriterium, das sich der Lektor auferlegen sollte, bevor er ein Manuskript zur Bearbeitung annimmt: das Potenzial! Manuskripte, in deren Handlungen er keinerlei roten Faden, geschweige denn irgendeinen Sinn erkennen kann, die kurzum schlichtweg schlecht sind, lehnt ein seriöser Lektor ab. Denn da kann dann selbst der Profi nichts mehr ausrichten!