Die kleine Echse

Von Prof. Dr. Peter Bauemle-Courth, Gewinner des CarpeGusta Literatur Awards 2024

Auf einem Stein sitzt eine kleine Echse. Sie bewegt sich nicht, genießt die Sonne.

Mein Smartphone brummt. Ich erfahre, dass im Kino wieder interessante Filme gezeigt werden. Andrea lässt sich scheiden. Aus Österreich kommen immer wieder Werke mit etwas kauzig wirkenden Personen. Die Herrlichkeit des Lebens. Wer hat nicht etwas von Franz Kafka gelesen? Perfect Days. Wim Wenders zeigt einen meist sehr zufriedenen Toilettenreiniger und Tokios wohl schönste öffentliche WC-Anlagen. Dazu Musik von Lou Reed von einer Musikkassette in einem kleinen Kleinbus. Jugendliche Erinnerungen an Bandsalat, immer in der Hoffnung, die Kassette wieder reparieren zu können. Und ab und zu gelang die Reparatur tatsächlich!

Kinos sollen unbedingt bleiben. Auch nach Corona. Auch in der Zeit der Streaming-Dienste. Genauso wie Restaurants und Cafés bleiben sollen. In der Zeit der Lieferdienste. Ebenso kleine und, nun ja, auch große Läden. Selbst wenn das Bestellen vom Sofa aus bequem sein kann.

Genug geträumt. Ich mache mich auf, gehe in das kleine Café, das hier in der Nähe vor Kurzem eröffnet hat. Die brauchen Kundschaft. Auf der Terrasse ist noch Platz. „Einen Kaffee, bitte. Ohne Milch. Ohne Zucker.“

Am Nebentisch unterhalten sich engagiert zwei Frauen: Wie unsicher Lastenräder wirklich sind. Wie es mit den Autos in der Stadt weitergehen soll. Dass es ohne nicht geht. Nicht mit zwei Kindern und dem Kontrabass zur Musikschule. Mit dem Zug dauert die Fahrt zur Oma mindestens doppelt so lange. Seit Opa in dem Herbst damals viel zu früh gestorben ist, muss Oma etwas häufiger besucht werden. Und Oma freut sich immer sehr, wenn sie Besuch bekommt.

Mein Blick fällt auf die Straße. Sie ist nicht sehr breit. Wenn sich Autos begegnen, kommen sie nicht immer einfach aneinander vorbei. Fährt jemand mit dem Rad, geht es etwas langsamer voran. Überholen geht nur gelegentlich. Vielfarbige Wahlplakate hängen an Laternen. Die großformatigen Gesichter wollen unser Bestes: Freiheit. Frieden. Wohlstand. Die Reihenfolge ist bisweilen verschieden.

Auf dem Gehweg vor der Terrasse erklärt ein Vater seiner etwa sechsjährigen Tochter, weshalb es einige Inseln bald nicht mehr geben wird. Das Mädchen trägt ein farbenfrohes rotes T-Shirt. Es fragt, was mit den Menschen sein wird, die auf diesen Inseln leben. Der Vater erzählt von neuen Lebensräumen. Indonesien baut sich sogar eine komplett neue Hauptstadt. Nie die Hoffnung auf-geben, dass ein Leben weiter möglich sein wird!

Etwas weiter die Straße hinauf ist ein Blumengeschäft, eine kleine Oase zwischen einem Nagelstudio und dem Büro einer Versicherungsmaklerin. Ein Lieferwagen steht in zweiter Reihe. Der Fahrer trägt Pakete und Päckchen aus, drückt an einem Haus auf alle acht Klingeln. Denn Zeit ist Geld. Er hat vermutlich beides nicht im Überfluss. Ein freundlich aussehender junger Mann tritt aus der Haustür. Er lächelt den Paketfahrer freundlich an und lässt ihn ins Haus.

„Man muss mich nicht lieben“, denkt sich der Gerichtsvollzieher wohl, der in diesem Moment das graue Haus gegenüber verlässt, das mit der etwas verwitterten, früher sicher einmal sehr schönen Holztür. Die Familie, die er besucht hat, lebt bereits seit vier Jahren in Deutschland. Die Sprachprobleme der ersten Jahre sind überwunden. Die Kinder kommen gut mit in der Schule. Das Kleingedruckte bei den Ratenkäufen jedoch … Auf dem Fernseher klebt ein Kuckuck. Doch es gibt einen Plan für die Bezahlung. Das wird schon irgendwie gehen. Denn beide Elternteile haben Arbeit.

Die Tochter fragt ihren Vater, warum neben ihrem Haus drei alte Bäume gefällt worden sind. Der Paketzusteller hat drei Häuser weiter angehalten. Klingeln. Irgendwo versteckt sitzen im Laub eines Baumes Vögel und zwitschern.

Ein sehr blauer Himmel. Die Sonne glüht förmlich an diesem Tag. Mitte Mai. Das war früher nicht so.

Wie alt bin ich eigentlich, dass mir so oft Gedanken an früher kommen? Natürlich sind es nicht die nostalgischen „Alles war besser“-Gedanken. Aber es war eben manches anders.

Schon in meiner Kindheit wurde der Bericht des „Club of Rome“ veröffentlicht. Einige Zeit zuvor saßen wir mit der ganzen Familie vor dem Fernseher. Nicht nur wir mussten unbedingt die Mondlandung von Apollo 11 sehen. Knapp die Hälfte meines Lebens gab es Deutschland gleich zwei Mal. Dann wurden die Postleitzahlen fünfstellig. Kriege fanden in der Ferne statt. Mehr oder weniger. „Hitzebeständig“ war eine Beschreibung für ein Geschirr.

Im Familienurlaub war nicht nur der Urlaub auf einem Reiterhof für die Töchter eine Attraktion, auch der Besuch in einem Internetcafé in der nahen Stadt: dreißig Minuten für einen Euro. „Fasse Dich kurz“ war einst ein Slogan des Unternehmens, das heute Telekom heißt.

Auf der Verkehrsinsel am Kreisverkehr blühen Blumen, wachsen Kräuter. Für die Bienen gibt es ein eigenes Biotop in Form eines kleinen Hauses.

Mein Freund fragt mich immer wieder, was wir denn tun können. Wir alleine sind doch hilflos. Das Klima hat sich natürlich verändert – nicht nur das in der Natur, auch das zwischen den Menschen. Beides weiß er. Aber er fragt immer wieder, wie um eine Rechtfertigung zu bekommen. Dass er nicht mehr macht, als er eben kann. Und überhaupt: Ist es nicht ohnehin viel wichtiger, dass China und Indien etwas tun?

Ich habe keine zufriedenstellende Antwort. Nicht mehr zu fliegen, das ist sicher eine Möglichkeit. Aber nicht für jeden, die Lebensumstände sind so verschieden. Und wie soll ich sonst in mein ge-liebtes Arusha kommen, diese für mich so liebenswerte Stadt in Tansania. Mit dem Fahrrad wird das nichts. Bei mir jedenfalls nicht. Also mit einem Diesel-Fernbus? Vielleicht! Nein, eher nicht. Oder mit der Bahn? Lassen wir das. Obwohl es tatsächlich eine Eisenbahn nach Arusha gibt, die eigentlich die Deutschen in ihrer Besatzungszeit fertigstellen wollten. Dann haben es die Briten gemacht, vor knapp einhundert Jahren.

Mit Menschen aus Arusha hatte ich in meiner Zeit als Student einige Brieffreundschaften. Das war interessant. Zu Beginn jedenfalls. Bis mir der Postbote an einem schönen Sommertag fünfund-zwanzig weitere Briefe brachte. Zu viel des Guten. Was wohl aus all den Briefkontakten geworden ist?

El Niño und Regenfälle sind in Tansania gerade wichtigere Themen als Kriege, Zugverspätungen oder die Marsmission eines amerikanischen Milliardärs. Ich wollte dieser Tage noch im „Citizen“ nachlesen, welche Schäden die jüngsten Unwetter angerichtet haben.
Morgen ist auch noch ein Tag. Dann werde ich etwas ändern, etwas Neues anpacken. Heute habe ich noch so viel anderes vor.

Ich könnte meinen Vorgarten begrünen. Die Vorbesitzer haben einen pflegeleichten Bereich mit großen und kleinen Kieseln und einigen Steinplatten vor dem Haus angelegt. Vielleicht werde ich etwas weniger Auto fahren, weniger Fleisch essen. Diese Gedanken kreisen immer wieder, machen müde.

Bevor ich wieder aufbreche, sehe ich noch rasch auf mein Online-Konto. Die Banken haben immer weniger Filialen; eine Überweisung auf Papier würde mich bei kleineren Beträgen mehr kosten als die Mehrwertsteuer beim Kaufpreis. Es ist natürlich praktisch, das alles online machen zu können. Jedenfalls, wenn der Computer ordentlich arbeitet. Und die Internet-Verbindung schnell genug ist. Und überhaupt funktioniert. Stromausfälle gibt es gelegentlich auch. Mit meinem kleinen Laptop lassen sich die natürlich überstehen.

Die Bank möchte bei meinem Login, dass ich mich für eine persönlich zugeschnittene Kundenansprache entscheide. Danach soll ich meine PIN ändern. Aus Sicherheitsgründen. Es sollen jedoch nur Ziffern sein, damit ich bei Bedarf auch telefonische Unterstützung erhalten kann.

Nach der Überweisung sehe ich noch rasch auf die Nachrichtenseite. Ein Verhandlungserfolg bei der Tagung der Wirtschaftsminister und Wirtschaftsministerinnen. Kein Verhandlungserfolg bei der Tagung der Umweltminister. Und Umweltministerinnen. Die Bahn saniert ein weiteres Streckenstück. Die Stiftung Warentest bewertet Katzenfutter: Eines bekommt die Note 5. Kenia wird in den kommenden Jahren 15 Milliarden Bäume pflanzen. Die Oberlausitz bekommt einen großen Mischwald. Eine Partei möchte weniger Bürgergeld, jedoch in den Innenstädten mehr Autos. Studierende in Frankfurt helfen unversicherten Menschen. Die weltweite Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Ein Fußballverein verliert ein Spiel. Dann noch das Wetter, ohne Überraschungen: Das nach längerer Trockenphase angekündigte Gewitter soll ergiebigen Regen bringen. Wäre es Samstag, kämen nun noch die Lottozahlen.

Mir kommt in den Sinn, dass ich morgen die Tageszeitung wieder einmal in Papierform lesen möchte. Hier in den Weiten des Internets verliere ich zu rasch die Konzentration. Manchmal erinnere ich mich schon kurz nach der Lektüre nicht mehr an alle angesprochenen Themen.

Dark Pattern halten mich fest auf der Seite mit den Nachrichten, wollen, dass ich noch rasch das nächste Video ansehe. Das in angenehme Farben gekleidete Angebot eines Abonnements ist un-schlagbar, gilt jedoch nur noch dreizehn Minuten. Kaum Zeit, einen Espresso zuzubereiten!

Am Rand der Seite erscheint eine Werbung: „Mein Mann ist jetzt ein Baum.“ Ist das ein Trost?

Morgen werde ich mich über den „Lancet Countdown Report“ informieren. Jetzt muss ich allerdings wirklich aufbrechen.

Eine vorbeifahrende Straßenbahn holt mich aus meinen Gedanken. Auf dem Gehweg gegenüber stützt sich ein alter Mann auf seinen Rollator, seine junge Begleitung unterhält sich freundlich mit ihm.

Das Mädchen mit dem roten T-Shirt lacht seinen Vater an. „Sieh mal, Papa, hier sitzt eine kleine Eidechse auf dem Stein!“

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