17. Dezember 2024 – Wie weit kann, aber vor allem darf Literatur gehen? Diese Frage haben wir uns in der Redaktion gestellt, nachdem die neuesten „Dark Romance“-Bücher bei uns auf dem Tisch gelandet sind. Denn die sind im Vergleich zu ihren Vorgängern, die zuvor in diesem Genre auf den Markt gekommen sind, salopp ausgedrückt, regelrecht mutiert.
Triggerwarnung: Dieser Beitrag enthält potenziell triggernde Inhalte zu Gewalt und Sexualität.
Von Amateuroperationen über Kindesmissbrauch bis hin zur „fragwürdigen Nutzung einer mumifizierten Leiche“
Auch bislang waren die Handlungen natürlich schon von dunklen (Anti-)Helden beherrscht. Allerdings blieb die Gewalt – stets gepaart mit mehr oder weniger prickelnder Erotik – noch im Rahmen des Zumutbaren. In „After Passion“ aus dem Jahre 2014 etwa steht „nur“ eine toxische Beziehung und deren Romantisierung im Mittelpunkt. Der Bad Boy, von Aggressionsproblemen angetrieben, dominiert die Frau. Die wiederum steht in einem ziemlich ungesunden Abhängigkeitsverhältnis. Es ist das ursprüngliche Muster dieses Genres. Von ausufernder Brutalität aber, die heute bis zur in allen Einzelheiten dargebotenen Zerstückelung von Menschen geht, fehlt noch jede Spur.
In „365 Tage“ von 2018 ist dann die erste signifikante Steigerung zu erkennen: Die Rohheit des Textes ist erheblich. Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Entführung, Freiheitsberaubung und Erniedigung der Hauptdarstellerin sind die Motive, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte ziehen. Mit ausschmückenden, abgeschmackten Elementen wird dabei alles andere als gegeizt. Immerhin bleiben hier noch Stimuli wie überbordernde Folterpraktiken und detailverliebte Ausführungen von brutalsten Abscheulichkeiten im Rahmen von Kettensägen-, Axt- und Skalpell-„Spielen“ aus.
Der Wandel hin zu völlig ungefilterter Brutalität
Derlei Tabus gibt es bei den aktuellen Neuerscheinungen definitiv nicht mehr. Heute geht es bei Dark Romance so richtig ans Eingemachte! Bisherige No-Gos sind so allgegenwärtig und werden dermaßen ausgereizt, dass es im Vorwort regelmäßig gar einer ausdrücklichen Triggerwarnung bedarf. „Bitte lest mit Vorsicht!“, heißt es dort. Oder: „In diesem Buch kommen vor: Augäpfel und Augenhöhlen, Amateuroperationen, Messer, Kindesmissbrauch, schlucken, spucken, anal …“. An dieser Stelle blenden wir bewusst aus.
Ein „angesagter“ Plot scheint ausschließlich mit einer Aneinanderreihung solcher Zutaten zu funktionieren, frei nach dem Motto: Klotzen statt Kleckern. Doch ist das nun wirklich Verantwortung und Fürsorge oder – dieser Eindruck drängt sich unweigerlich auf – genau das Gegenteil, nämlich eine knallharte, buchstäblich schockierende Werbestrategie? Schreckensszenarien werden jedenfalls wie am Fließband produziert, laufen beim Lesen unaufhörlich vor dem geistigen Auge ab. Kaum hat man die Kulisse der einen blutdurchtränkten Landschaft verlassen, wartet schon der nächste Horror-Schauplatz, an dem es dann zum „versehentlichen und nicht ganz so versehentlichen Kannibalismus“ oder zur „fragwürdigen Nutzung einer mumifizierten Leiche“ aus der Triggerwarnung kommt. Zeit zum Verschnaufen und Durchatmen, geschweige denn zum Verarbeiten bleibt angesichts der hohen Frequenz des Grauens dabei kaum.
Da nimmt es nicht wunder, dass nicht wenige dieser neuen literarischen Richtung mit Argwohn begegnen und darin eine Verrohung der Gesellschaft zu erkennen glauben. Ob ihrer Gewaltverherrlichung seien diese Romane nicht nur als moralisch verwerflich einzustufen; sie stellten insbesondere für die Jugend eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Da helfe auch die lapidare „unverbindliche Lesempfehlung ab 18 Jahren“ kaum. Der Grund: Die Exemplare werden in der Buchhandlung prominent, ja exponiert ausgestellt und sind somit natürlich auch für Jugendliche frei zugänglich.
Andere hingegen erkennen in dieser kontroversen Modeerscheinung lediglich eine trendige Weiterentwicklung des Sujets Dark Romance. Die plakative Provokation sei nichts weiter als eine der vielen Facetten der Literatur, die ja genau das propagiere: eine uneingeschränkte, kunstvolle Entfaltung und poetische Umsetzung von Ideen – grenzenlos kreativ, inspiritativ freigeistig sowie hin und wieder sogar herausfordernd streitbar oder aufreizend.