16. Oktober 2025 – Wörter sind mehr als nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Ihnen wohnt ein Zauber inne, der durch feingeschliffene Sprache das Gewöhnliche ins Einzigartige verwandelt. Oder anders ausgedrückt: Eine eingängige Melodie lebt von Rhythmus, Gefühl und ausgewählten Noten, die perfekt harmonieren. Sonst berührt Musik nicht. Der Wohlklang eines Textes ertönt durch denselben Feinsinn: Nur wenn das Herz und der Geist abgestimmt werden mit der Leidenschaft für Poesie, entstehen bedeutungsvolle literarische Unikate. In dieser Rubrik widmet sich CarpeGusta Literatur genau solchen Büchern: Werken, die über die bloße Handlung hinausgehen, weil sie von der Ästhetik des Schreibens leben, indem sie durch wohlkomponierte Satz-Arrangements Magie pur erzeugen.
Heute präsentieren wir Ihnen eine Auswahl der schönsten und prägnantesten Passagen aus dem Roman „Haus zu Sonne“ von Thomas Melle, Kiepenheuer & Witsch Verlag:
- „Die Cola, die ich jetzt trank, schmeckte wie eine fade, verblassende Erinnerung an meine dunkelsten Zeiten: klebrig, chemisch, charakterlos.“
- „Es war ein jahrelanges Warten auf nichts. Der Januar war vom langsamen, sich über Wochen dahinziehenden Zusammenbruch der Manie geprägt. Der Februar war ein bloßes Verharren gegen den Selbstmord in tiefster, sprachloser Depression. Der März war Trauer. Der April war graue Indifferenz. Im Mai wollte ich noch immer sterben, konnte es aber nicht. Dann ging ein Jahr vorbei, amorph und grau, und ich lebte noch immer.“
- „Ich war Asche, ich war unheilbar krank, und ich könnte nur durch meinen Tod geheilt werden.“
- „Eine Depression zu beschreiben, ist nicht einfach, da sie eine große Ereignislosigkeit bedeutet, eine ewige Anhäufung von leidvollen Nullmomenten.“
- „Ich wollte nichts mehr, aber dieses Nichts wandte sich gegen mich, wurde zu einem Unraum, der sich um mich legte, um meinen Körper, um meinen Hals.“
- „Der Schwindel im Kopf wirbelt mich herum, ich drehe mich wohl um die eigene Achse, stehe dann still und schwebe, blind im Licht, wie unter Wasser. So verharre ich in der Höhe, werde weniger, werde dünner und ätherischer, löse mich schließlich ganz auf in Sonnenschein und Atmosphäre, im Glück.“
- „Angesichts des Todes hörte der Lügenkomplex doch auf? Konnte er aufhören? Die leichte Schönfärberei auch, was die Mitmenschen anging, die ich doch oft geschont hatte im Schreiben, die Auslassung, die absichtliche Ungenauigkeit zu Gunsten anderer?“
- „Die totale Verbindungslosigkeit hielt ebenfalls weiter an. Ich war wirklich mit niemandem mehr verbunden … und der Zeitkanal nach vorne, die Perspektive in eine Zukunft, innerhalb derer sich das ändern könnte, war verschüttet.“
- „Wer ich wirklich war (oder eben nicht mehr war), blieb im Verborgenen. Irgendwo, da im Dunkeln, da gab es wohl jemanden, aber wen, das wusste ich selbst nicht mehr. Und er war sich und mir absolut nichts mehr wert.“
- „Gegenüber dem eigenen Zustand bleibt das Bewusstsein blind und dumm.“
Klappentext:
Nach seinem weltweit beachteten Buch „Die Welt im Rücken“, in dem er sein Leben mit bipolarer Störung literarisch brillant verarbeitet hat, legt Thomas Melle nun einen Roman vor, der die Grenzbereiche zwischen Autobiografie und Fiktion, zwischen Sehnsucht und Depression und letztlich zwischen Leben und Tod weiter auslotet.
Wie viel Selbstbestimmung ist möglich, wenn das Leben von einer psychischen Krankheit fremdgesteuert ist? Wonach sehnt sich einer, der nichts mehr zu verlieren hat? Und wie könnte es aussehen, das letzte Glück? Willkommen im „Haus zur Sonne“, einer Institution, die zugleich Wunscherfüllungsmaschine wie Abschaffungsapparat ist. Lebensmüde und todkranke Menschen liefern sich in diese vom Staat finanzierte Klinik ein, um jeden nur erdenklichen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen und dann – ohne großes Aufsehen – aus dem Leben zu scheiden. Aber will, wer nicht mehr leben will, wirklich sterben?
Thomas Melle geht unseren Sehnsüchten und Todestrieben auf den Grund und liefert so eine radikale Skizze der Conditio humana.
Entdecken Sie noch mehr ausgewählte Bücher in unserer Rubrik „Literarisches Konfekt“!














