Ab welchem Moment wird aus Handlungen ein Schicksal? Literarisches Konfekt in ausgewählten Büchern – empfohlen von Chefredakteurin Dr. Maria Zaffarana

12. Oktober 2025 – Wörter sind mehr als nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Ihnen wohnt ein Zauber inne, der durch feingeschliffene Sprache das Gewöhnliche ins Einzigartige verwandelt. Oder anders ausgedrückt: Eine eingängige Melodie lebt von Rhythmus, Gefühl und ausgewählten Noten, die perfekt harmonieren. Sonst berührt Musik nicht. Der Wohlklang eines Textes ertönt durch denselben Feinsinn: Nur wenn das Herz und der Geist abgestimmt werden mit der Leidenschaft für Poesie, entstehen bedeutungsvolle literarische Unikate. In dieser Rubrik widmet sich CarpeGusta Literatur genau solchen Büchern: Werken, die über die bloße Handlung hinausgehen, weil sie von der Ästhetik des Schreibens leben, indem sie durch wohlkomponierte Satz-Arrangements Magie pur erzeugen.

„Der Absturz“ von Édouard Louis, Aufbau Verlag

Das Leben in seiner ganzen Brutalität peitscht in diesem aufwühlenden Roman auf einen Mann ein, der sich nichts sehnlicher wünscht als zu entkommen, der aus allem ausbrechen möchte. Denn er wollte mehr vom Leben: mehr Sinn, mehr Liebe, mehr Würde. Doch mit jedem gescheiterten Versuch versinkt er tiefer im Morast seiner Schwächen. Ganz gleichgültig, wie sehr er sich gegen seine persönlichen Dämonen auflehnt, unterliegt er ihnen jedes Mal aufs Neue.

Brutal offen

Schonungslos geht Louis im Roman mit seinem toten Bruder um. Er entblößt aber auch dessen Ängste – ohne jeden Pathos, sondern mit einer radikalen Ehrlichkeit, die seine Leserinnen und Leser zwingt, sich selbst und die Gesellschaft zu hinterfragen. Diese Offenheit macht sein Schreiben so kraftvoll, weil es eben nicht nur ein privates Schicksal beleuchtet, sondern geradezu philosophische Fragen nach sozialer Identität stellt.

Eine kleine Auswahl der schönsten und prägnantesten Passagen aus dem Roman:

  • „Die grausamsten Realitäten sind oft die am wenigsten überraschenden.“
  • „Frage: Ab welchem Moment wird aus Handlungen ein Schicksal?“
  • „… Ungerechtigkeit ist nichts anderes als der ungleiche Zugang dazu, Fehler machen zu dürfen … Ungerechtigkeit ist nichts anderes, als die ungleich verteilte Möglichkeit, sich ausprobieren zu können, ganz gleich, ob man mit seinen Plänen scheitert oder nicht …“.
  • „Der Tod erfordert schnelles Lernen.“
  • „Wenn man keine Macht über jemanden hat, macht einen das zu einem besseren Menschen.“
  • „Als würde die Welt mit jedem Tod neu beginnen.“
  • „Mein Bruder hatte schon immer die ganze Welt gewollt, seine Träume waren nie klein gewesen, sondern immer riesengroß, er hatte nie die Alltagsträume anderer Leute gehabt … und ich glaube, es lag an der größe seiner Träume, an der Diskrepanz zwischen seinen übergroßen Träumen und den Unmöglichkeiten, aus denen sein Leben bestand, den Begrenzungen … all das, was sein Schicksal ausmachte, ich glaube, es lag an diesem Widerspruch, dass er so unglücklich war. Mein Bruder war an seinen Träumen erkrankt.“
  • „Sein Leben war durch äußere Umstände zersplittert, und die Traurigkeit gab ihm die Illusion von Kontinuatität, als folge alles einer Logik, einem Plan. Die Traurigkeit kittete die Scherben zusammen und ermöglichte eine kohärente Erzählung.“
  • „… die meisten Menschen wünschen sich Kinder, um die Vergangenheit zu beschwören, nicht, weil sie auf eine bessere Zukunft hoffen.“
  • „Wie kann man die Vergangenheit vergessen, wenn man keine  Zukunft hat?“

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